Donnerstag, 13. November 2014

Ein offener Brief

Meine lieben Inder,

mittlerweile versuche ich seit 45 Tagen euer Naturell zu verstehen und ich mache wirklich große Fortschritte. Religion, Familie und Fürsorge - ich kenne schon vieles, was Euch wirklich wichtig ist. Einige Anflüge der Anarchie erschließen sich mir aber nicht so ganz. Vielleicht kann mir das jemand erklären?

Eure gute Seite


Ohne Euch zu viel Honig um den Mund schmieren zu wollen, muss ich eines zugeben: Ihr seid die barmherzigsten, großzügigsten und fürsorglichsten Menschen, die ich bisher auf meinen Reisen summa summarum kennenlernen durfte. Sobald ich auch nur auf das kleinste Problem gestoßen bin, prügelten sich meine indischen Freunden quasi darum, wer mir letztendlich helfen darf. Da fast alles in Indien über private Kontakte arrangiert werden muss, damit es nicht in Zeitlupe bzw. halbherzig abläuft, bin ich dafür extrem dankbar.

Ein anderes Beispiel indischer Gastfreundschaft gefällig? Als mein Kumpel und (mietrechtlicher) Interessenvertreter Ankur einen Anruf erhielt, der eine Hochzeitseinladung für ihn bereithielt und er beiläufig erwähnte, dass er gerade mit seinen frisch gelandeten Germans unterwegs sei, lautete die logische Schlußfolgerung des Anrufers selbstverständlich: "Please tell them that they have to come as well." Und es war keineswegs so, dass es dann bei einer solch halbgaren Einladung blieb: Nur drei Tage später hatten wir tatsächlich eine Einladung im Briefkasten mit der Bitte um verbindliche Zu- oder Absage. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass so etwas in Deutschland völlig undenkbar wäre. Auch eure integrativen Fähigkeiten haben mich fast täglich beeindruckt. Nach nur einer Woche in Delhi hatte ich schon so etwas wie einen festen Freundes- oder Bekannten-Kreis, der seitdem peinlichst genau darauf aufpasst, dass mir nicht eine Minute langweilig ist. Man könnte fast sagen, dass ich mich ein bisschen zu Hause fühle.

 

Eure nicht ganz so gute Seite


Und trotzdem, liebe Inder, habe ich etwas auszusetzen. Ich weiß, das mag fast schon anmaßend klingen oder vielleicht kann man es auch Klagen auf sehr hohem Niveau nennen, aber es will mir einfach nicht in den Kopf: Wie kann eine Gesellschaft, die offensichtlich aus so vielen Gutmenschen besteht, im täglichen Miteinander so anarchisch und rücksichtslos sein? Ist das wirklich nur eine Folge der schier unendlichen Menschenmasse (knapp 1,3 Milliarden), die Euch täglich dazu veranlasst, in zahlreichen Alltags-Situationen ausschließlich an euer eigenes Wohlergehen zu denken?

Was genau ich damit meine? 

Dort wo ich herkomme gibt es beispielsweise im Straßenverkehr die Prämisse der gegenseitigen Rücksichtnahme. Ich sage damit nicht, dass jeder Kraftfahrer das 24/7 beherzigt, aber als allgemein akzeptierte Spielregel gilt das Gebot der Rücksichtnahme schon. Euer Verkehrssystem hingegen erinnert mich eher an eine Anarchie. Jeder für sich, ohne Rücksicht auf Verluste. Sobald ein Autofahrer an der Ampel durch übertrieben dichtes Auffahren auch nur 50 Zentimeter gut machen kann und in Folge dessen 10 andere Autos warten müssen, weil sie sich nicht einordnen oder abbiegen können, würdet ihr euch immer wieder für den enormen Raumgewinn von 50 Zentimetern entscheiden. Wenn ihr abbiegt und dafür etwa fünf Autos eine Vollbremsun machen müssen, wird das ebenso breitwillig in Kauf genommen.

Metro-Untergrund in Delhi: Es lebe die Anarchie!
Survival of the Fittest

Die Sahnehaube dieses egomanischen Verhaltens, als ob es in jeder Minute des Alltags um Leben und Tod gehe, erlebe ich dann täglich in der Metro. Sobald ich meine Station "Central Secretariat" erreiche, beginnt ein wahrer Kampf, überhaupt aus der Metro zu kommen. Ernsthaft. Die Menschen, die im Gegensatz zu mir einsteigen wollen, gehorchen dem mMn sinnvollen Grundsatz "erst raus, dann rein" nicht im Geringsten. Viel mehr gilt für sie: "Gleichzeitig rein und raus." Die Metro zu verlassen, ist wie gegen die Strömung eines Taifuns anzukämpen. Mal erfolgreich, mal nicht.

Also...

Ich möchte das keineswegs als Anklageschrift verstanden wissen! Eigentlich mag ich Euch ja. Ich kann mir aus dem beschriebenen Widerspruch der unerschöpflichen Barmherzigkeit und absolutem Egoismus einfach keinen Reim bilden. Vielleicht kann das ja einer meiner Leser?

Liebe Grüße,
Euer Kaese!

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