Nach einem zweistündigen Spaziergang
entlang der Paseo de la Reforma, deren Anblick vorrangig durch hoch
aufgeschossene Wolkenkratzer und ein reges Verkehrsaufkommen
gekennzeichnet ist, bin ich mir endgültig sicher: das Zentrum von
Ciudad de Mexico inklusive seiner verwinkelten Flaniermeilen im
Umkreis des ehrwürdigen Palacio Nacional am Zocalo könnte wohl eins
zu eins das Zentrum beinahe jeder europäischen Großstadt prägen.
Egal ob in London, Paris oder Berlin.
Nichtsdestotrotz fühlt man sich auch
als Besucher, der eigentlich nur selten die westliche Keule der Moral
mit sich trägt, irgendwie dazu gedrängt, dem All You Can Eat
Pauschaltouristen entgegen zu rufen: „Der Schein trügt.“
Die ersten Indizien dafür sind
augenscheinlich. Denn selbst dem mehr oder weniger geschulten
Touristenauge fällt nach nur einigen Stunden in der mustergültig
hergerichteten Innenstadt unweigerlich auf, dass ein großer Teil der
historischen Mauern im Zentrum von D.F., wie die Mexikaner ihre
Hauptstadt zumeist nennen, schief stehen. Die Mauern der Gebäude -
seien sie historisch bedeutsam oder nicht - neigen, ähnlich dem
schiefen Turm von Pisa, zu einer bestimmten Seite. Was an für sich
wohl selbst für den hyperkritischsten Touristen kein sonderliches
Problem darstellt. Jedoch spiegelt dieser vermeintlich ausschließlich
baustatische Mangelzustand beinah in Perfektion die sozialen Probleme
der mexikanischen Metropole wider, die knapp neun Millionen Menschen
beheimatet.
Denn trotz aller Schönheit des
kulturell geprägten Zentrums der Innenstadt, erscheint fast es so,
als ob die ungeliebten und gern überhörten Stimmen der Armut bis in
die Innenstadt hallen und buchstäblich versuchen, an den
prachtvollen Fassaden der Gebäude zu rütteln.
Zwischen 1870 und 1911 versuchte der
Diktator Porfirio Diaz den schier niemals endenden Herausforderungen
eines progressiven Bevölkerungswachstums mithilfe einer innovativen
Reform entgegenzutreten, die bis dato ihresgleichen suchte. Er
beschloss, den Lago de Texcoco - der aus heutiger geographischer
Sicht mitten in Mexiko Stadt liegen würde - komplett trocken zu
legen, um neuen Wohnraum für die zahlreichen Einsiedler der Stadt zu
schaffen. Ein Vorhaben, dessen Intention gar nicht so unedel klingt,
das jedoch so unzureichend in die Tat umgesetzt wurde, dass es bis
heute unfreiwillig die Identität der gesamten Hauptstadt prägt.
Für die völlig verarmte Bevölkerung,
die nun auf den ehemaligen Sumpfgebieten haust, bedeutet die tägliche
Gefahr eines Erdrutsches in Kombination mit der ebenso latenten
Gefahr eines Erdbebens die dauerhafte Gefährdung ihrer gesamten
Existenz. Für die Regierungsangestellten und Banker, die in der
florierenden Innenstadt ihr täglich Werk verrichten, bedeutet die
Auseinandersetzung mit der mangelhaften Erdsubstanz hingegen wohl
vielmehr ein Luxusproblem, da im Distrito Federal, kurz: D.F. , die
allerwichtigsten baulichen Maßnahmen natürlich längst ergriffen
wurden. Selbstredend nimmt das lästige Problem mit der mangelhaften
Bausubstanz für sie auch weitaus weniger dramatische Ausmaße an.
Insofern interessiert wohl vor allem
Frage nach der eigenen Interpretation eines Paradoxons, das die
gesellschaftliche Identität der ehemals größten Stadt der Welt
nahezu perfekt resümiert. Einerseits verdeutlichen die völlig
unterschiedlichen Ausmaße ein und desselben Problems die tiefe
Gespaltenheit Ciudad de Mexicos in Arm und Reich nahezu perfekt und
auf der anderen Seite stellt die seit über hundert Jahren vorhandene
gemeinsame Problemstellung wohl gleichzeitig die letzte Faser eines
völlig ramponierten Fadens zwischen den Eliten Mexico Citys und
seinen bettelarmen Bevölkerungsschichten dar.